Der Urlaub
Eine Erzählung
„So…, Sanya“, begann Red und nippte dabei am zweiten Glas Bier, „Er war ein Beobachter des Universums. Er war unsterblich, verfügte über einen absolut unverwundbaren, wandelbaren Körper und er konnte im Nu zu jedem beliebigen Punkt der Raum-Zeit wechseln. Und sein gewaltiges halbelektronisches Gehirn bewertete durch visuelle Eindrücke und durch Angaben komplizierter Apparaturen augenblicklich ein kosmische System in seinem momentanen Zustand, angefangen bei der Masse und der Zusammensetzung bis hin zur Gesamt-und der verbleibenden Lebensdauer. (Das schloss auch Zivilisationen ein, sofern sie im System vorhanden waren.) Er akzeptierte außerdem bedingungslos nur langfristige Lösungen.
Er verfolgte die Bildung von Galaxien, beobachtete aufmerksam die Entstehung von Sternen und das Aufkommen von Leben, sah den Untergang von Welten und den Fall von Zivilisationen. Aber all diese wichtigtuerischen Passionen, all diese Katastrophen, manchmal sogar von einer universalen Größenordnung, beunruhigten ihn nicht. Außerdem war es ihm nicht gestattet, sich irgendwo einzumischen. Er hatte nur die Entwicklung des Universums zu beobachten und jedes kleinste Detail einer Evolution akribisch aufzuzeichnen.
Er untersuchte alles gefühllos und unparteiisch, wie eine Maschine. Eine wirkliche stellare Erziehung und eine universale Abhärtung. Geradezu eine Art Sternen-Junge. Aber das Glück war ihm bis zu der Zeit hold, als er beschloss, den Erdlingen zu helfen. Offenbar hatte ihn irgendeines unserer Mädchen verführt, wenn ich ihn richtig verstanden habe.
Kurz gesagt, er verlor für etwa zwei Jahrhunderte alle seine übernatürlichen Fähigkeiten und seine Unsterblichkeit – Emotionen, mein Freund, verschlingen einen Menschen restlos. Und jetzt ist er von allen verlassen und vergessen, auch von seinem Mädchen, er streift obdachlos durch die sündige Erde. Aber er hätte dir das alles selber erzählen sollen. Wir haben das gestern mit ihm sogar so vereinbart, aber wie du siehst, ist er nicht gekommen. Er ist total heruntergekommen, der arme Teufel…
Dennoch werdet ihr euch gut verstehen: Immerhin kann er einem Astronomen, auch einem Anfänger, einiges erzählen! Glaubst du mir nicht? Ich sehe doch, dass du mir nicht glaubst. Ich habe das bereits vorausgesehen und für dich daher einen kleinen Beweis bereit gelegt. Du kennst vermutlich den Stern Tau Tukana.
Nun, er besitzt eine protopra… pro-to-planetare Scheibe, die zur Hälfte aus Staub besteht und ansonsten aus Gas, hauptsächlich aus Wasserstoff und Helium. Innerhalb von zehn Millionen Jahren entstehen hier acht Planeten und auf zwei von ihnen entsteht nach weiteren drei Milliarden Jahren Leben, welches sich nach noch einer Milliarde Jahre zu einer Zivilisation entwickelt.
Also, was sagst du? Woher hätte ich das alles sonst erfahren, wenn nicht von ihm, dem Beobachter des Universums, der das alles mit seinen eigenen Augen gesehen hat?“, hörte Red selbstzufrieden auf und begann mit dem dritten Glas.
Sanya seufzte. Er zuckte zusammen. Pathos, ein Haufen Klischees… Er hätte sich schon etwas Neues ausdenken können. Zur Abwechslung. Einmal hat er sich einen Magier ausgedacht, der durch Bier schweben konnte. Und jetzt kommt er mit diesem Beobachter des Universums…
Eigentlich langweilten Sanya diese abendlichen Zusammenkünfte mit dem Getratsche, zu welchen ihn sein maßloser Kumpel, ein aufstrebender Schriftsteller ständig überredete. „Außer dir habe ich doch niemanden“, scherzte Red oft.
Hinter den Fenstern der abgelegenen halbleeren Bar, die bei weitem nicht die gesellschaftliche Crème de la Crème versammelte, wurde es bereits dunkel und Sanya hatte eigentlich keine Lust, die Venus wieder zu verpassen. Was Tau Tukan und seine, sechs Jahre zuvor eröffnete protoplanetare Scheibe betrifft, erschien über sie ein umfassender und aspektreicher Artikel (mit außergewöhnlichen Hypothesen über Planeten und Zivilisationen), in der vorjährigen Ausgabe von „Erkennbarer Kosmos“, wenn sich Sanya nicht täuschte.
„Also, Freundchen“, sagte Sanya kühl und wie immer wollte er sofort Nägel mit Köpfen machen, „Sag´ mir ohne nachzudenken: Wie oft hast du diesen Artikel durchgelesen, bevor du das Wort „protoplanetar“ gelernt hast?“
„Du bist immer zehn Schritte voraus, nicht wahr, Schlaumeier?“, Red seufzte und nippte wieder am Bier, „Na gut, du hast mich durchschaut. Ich habe mir das alles ausgedacht, um dich hierher zu locken und um einem Fachmann die Idee meines neuen Sciene-Fiction-Romans zu erzählen. Wie gefällt sie dir übrigens?“
„Hör zu! Wende dich an mich, sobald du erwachsen geworden bist, tut mir Leid wegen der Kürze. Ich würde dir gründlicher antworten, erzähl mir deine Idee zehn Stunden früher oder fünfzehn Stunden später. Das heißt, tagsüber, außerhalb der Arbeitszeit…“
„Du schläfst doch tagsüber.“
„Sehr witzig. Aber entschuldige jetzt, die Arbeit ruft. Guten Appetit!“
Sanya stand auf, musterte das Publikum aus Punks und Obdachlosen, das träge bei den Tischen saß, beugte sich zum Freund hin und fügte spöttisch hinzu:
„Mir scheint, dass es deine fantastischen Ideen dir bisher nicht erlauben, den Caterer zu wechseln.“
„So habe ich hier doch eine Inspiration!“, warf Red ihm hinterher.
„Du wirst schon eine musische Inspiration kriegen“, dachte Sanya, während er an die frische Luft eilte, „wenn ich zu den Beobachtungen zu spät komme.“
Und plötzlich erregte etwas für einen Moment seine Aufmerksamkeit und er verstand selber nicht sofort, was es genau war und es verschwand inmitten des pausierenden Publikums. „Und woher hat der Hominid einen Pager?“
Dieser verspätete Gedanke zwang Sanya bei dem Ausgang des Lokals zu halten und sich noch einmal umzuschauen. Dieser Pager huschte gerade vor seinen Augen vorbei, dabei befand er sich in den Händen einer Person, für die der Besitz durch zivilisatorische Leistungen sehr unwahrscheinlich war.
An einem Tischchen, das etwas weiter von den übrigen entfernt stand und näher beim Ausgang war, saß etwas, für das sich selbst ein Obdachloser nicht umgedreht hätte, um es zu benennen – für die Obdachlosen wäre es ein allzu großes Sakrileg gewesen. Die Gemeindemitglieder dieser Spelunke erschienen im Vergleich zu ihm geradezu wie Vertreter der Hocharistokratie. Dieses „Etwas“ war überhaupt überaus affig. Ja, offensichtlich machte hier nicht nur die Natur eine Pause, sondern auch die Evolution!
Das, was von ihm herunterhing, war entweder eine vage Erinnerung an Kleidung oder heruntergekommenes, schmutziges Fell. Von ihm ging ein Geruch einer Müllgrube aus, in welcher ein Schnapsfass ausgeschüttet worden war.
Allerdings ist es womöglich ein zu übertriebenes und bildhaftes Urteil… Im Wesentlichen spiegelte es die Realität jedoch korrekt wider.
Sein Tischchen war überfüllt mit leeren Wodkaflaschen und noch nicht leeren, sogar noch verschlossenen, Bierflaschen. Nun, wenn nach dem Wodka das Bier kommt, bedeutet das, die Dinge stehen wirklich schlecht…
Das Einzige, das beharrlich und hartnäckig zeigte, dass dieses Individuum der Gattung Homo Sapiens angehörte, war etwas wie ein Pager in den erdfarbenen Händen, welchen er aufmerksam betrachtete.
Der Pager war allerdings irgendwie glänzender und glühte beinahe. Obwohl, vielleicht bloß im Gegensatz zu den Händen…
Die Neugierde, die Sanya veranlasste, Teleskope zu bauen und nachts nicht zu schlafen, genau sie, diese natürliche Neugierde, zwang ihn die Venus völlig zu vergessen, jeden Ekel zu zerschlagen und sich an den „Affen“ heranzuschleichen. Was konnte solch ein Typ mit einem Pager übertragen?!
Erst nachdem er näher gekommen war und dem Bettler über die Schulter geschaut hatte, erkannte Sanya, dass es eigentlich überhaupt kein Pager war, sondern etwas, wie ein Taschenrechner mit wunderlichen Tasten und Hebelchen und mit einem riesigen Display, auf dem tatsächlich eine Nachricht leuchtete. Sanya strengte seine Augen an, denn er wollte die Aufschrift lesen. Er entzifferte nur das erste Wort „Agent“…
Der Hominid seufzte plötzlich, leerte die gerade geöffnete Flasche Bier in einem Zug und….
Das, was in der nächste Minute passierte, ähnelte entweder einem Traum, Spezialeffekten aus einem Hollywood-Blockbuster oder einem Delirium, aber nicht einer objektiven Realität. Sanya schreckte sogar zurück. Irgendjemandem drohte vielleicht ein Delirium, aber ihm bestimmt nicht.
Der Bettler stand schlagartig auf und richtete sich auf zwei Meter Körpergröße auf. Sein graues Haar verdunkelte sich, seine Haut wurde hell und erhielt dadurch ein gesundes, glattes und samtweiches Aussehen. Seine Lumpen oder sein Fell, je nach dem, wurden zu einem erstklassigen braunen Overall, der Taschenrechner-Pager wurde in eine der zahlreicher Taschen eingesteckt. Der Müllgestank war auch irgendwie spurlos verschwunden…
Der Astronaut blickte sich um, seine transparenten Augen hatten schelmisch aufgeleuchtet und Sanya erkannte ein willensstarkes männliches Gesicht.
Nachdem er den verblüfften Jungen bemerkt hatte, lächeltet er etwas, zog den Pager heraus, betrachtete ihn wie einen ungeladenen Revolver und warf ihn beiläufig ins Eck. Dann legte er Geld auf den Tisch, warf einige Bierflaschen, die noch keiner Autopsie unterzogen worden waren, in seine Tasche, die am Sesselrücken hing und verschwand mit festem weiten Schritt im Dunkeln der Straße.
* * *
Im Saal des entlegenen Lokals trank und lärmte man wie bisher, so als ob im Universum nichts Wesentliches passiert wäre, aber ein neugieriger Typ starrte mit offenem Mund auf die verschwindende Schrift auf dem weggeworfenen Pager. „Agent 1000000206. Ihr Urlaub endet in fünf Stunden. Die Dienstkapsel wird sie im Quadrat 3.5.2 des lokalen Koordinatensystems erwarten. Die Direktion der Liga. PS: Vergessen Sie die Exponate nicht!“
Mykolajiw, August 1992 – Februar 2004
Übersetzung am 17.10.2013, Wien
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