Der Serienselbstmörder
Eine Erzählung
„Gehen Sie mit ihm behutsam um“, erinnerte der Bezirksinspektor noch einmal, „Das ist schon der vierter seiner `Selbstmorde`“.
Tasha Nollan, die Krisenpsychologin des AAS ( [1] ) des Mondes nickte und ging ins Gebäude hinein. Dieses Mal griff er sie nicht an.
„Wodurch wurden die vorigen drei gestoppt?“, fragte ein junger Sergeant und blickte hinauf zum Dach des Säulenwolkenkratzers. Er war neu in der Gegend und las keine Zeitung. Dort tauchte der Begriff des „Serienselbstmörders“ schon länger auf und meist geschah dies in Verbindung mit einem russischen Namen. Obwohl in Wirklichkeit nicht so oft. Es kam etwa alle fünf Standardjahre vor…
Der Inspektor schaute den Sergeant an und antworte teils ernst, teils im Scherz:
„Durch den Tod der Psychologen.“
( [1] AAS – Amt für Ausnahmesituationen )
* * *
Jeder Gott braucht ein Opfer…
Er stand auf dem Vorsprung hinter dem Geländer.
Es war ein guter Tag, um zu sterben. Wobei andere Tage gab es hier nicht. Auf Ganymed, dem Jupitermond. Nur jupitersonnig-sternige Tage. Auf jeden Fall brachten es die Leute bisher nicht zu Stande, hier irgendeine Atmosphäre mit wenigsten ein paar Wolken zu erzeugen. Obwohl es ohnehin fraglich ist. Ganymed ist nicht der Mars…
Wunderschön. Ein Spinnennetz aus Straßen zwischen Häuserblöcken von pilzgleichen Häusern und ein Netz aus Hochstraßen über ihnen, Säulenwolkenkratzer, deren Dächer sich bis zum Rand einer Kuppel erstreckten. Einer Kuppel, die all das komplett bedeckte… Und weiter außerhalb der Stadt gab es eine verkraterte Eiswüste, den Himmel voller nicht-funkelnder Sterne, die unter sich einen winzigen blendenden Kreis verbargen– die Sonne und natürlich gab es noch den Jupiter.
Dieser Grau-Braun-Gelbe, der so wirkte, als hätte man ihn vor Milliarden von Jahren an einem Punkt über dem Horizont befestigt, stellte sein Rotes Geburtsmal ständig zur Schau und „ging mit einem breiten Grinser durchs Leben“, wie die Jugend sagt, weil er seine Atmosphäre in Streifen auseinandergezogen hatte.
Als ob er alle verhöhnte.
Und was konnte ihm, diesem Gasgiganten, überhaupt drohen? Für ihn war sogar ein Kometen- oder Asteroideneinschlag nur ein Mückenstich.
Also, irgendwelche Mücken flogen heran, landeten auf den Monden, es juckte ihn ein wenig…
Vielleicht hätte man diese Epidemie durch ein Insektizid (ein Magnetfeld) bekämpfen können? Oder irgendein Antimückenhalsband (einen Strahlengürtel) tragen können? Es wird sich von alleine lösen.
Auch schwarzer Humor ist Humor.
Er hörte in dieser Schwerkraft schließlich gleichmäßige Schritte hinter sich. Das einsame Klappern von Absätzen entlang der verlassenen metallenen Aussichtsplattform unter dem Dach des Wolkenkratzers. Darüber gab es nur noch eine gewölbte Kuppel aus Glas und Metall, in welche die Spitze des Gebäudes fließend überging. In den Kuppelstädten war „Wolkenkratzer“ wortwörtlich zu verstehen.
„Komm nicht näher als auf zwei Meter“, sagte er, ohne sich umzudrehen, „Warum hat das so lange gedauert, Tasha? Bin ich leicht schon uninteressant?“
„Der Abflug hat sich verzögert“, antwortete die Psychologin, wechselte sofort zu einem vertraulichen Ton und ergänzte: „Igor.“
„Oh, ich verstehe. Der hiesige Eisvulkanismus und das ständige Schmelzen des Permafrostbodens durch die Emissionen des Menschen stören die Landebahnen. Ich verstehe nur eines nicht. Was könnten Sie mir überhaupt erzählen, wenn ich doch jeden Ihrer Gedanken schon drei Jahre im Voraus kenne?“
„Nichts. Aber vielleicht erzählen Sie mir irgendetwas?“
„Zum Beispiel?“
Eine eigenartige Sanftmut und eine Ruhe gingen von diesem Mann aus. So als ob er sein Leben gar nicht aufgeben wollte. Aber für eine gewisse Gruppe von Selbstmördern ist so ein Verhalten typisch.
Tasha stand zwei Armlängen von ihm entfernt. Es war nicht klar, ob ein Sprung zum Patienten gelingen würde, daher beschloss sie, es bleiben zu lassen. Sie war doch keine Selbstmörderin…
„Beispielsweise“, begann die Psychologin, „Igor, ist Ihre Entscheidung das zu tun, endgültig?“
Er schaute sie schließlich an. Mittelgroß, kurze braune Haare, große graue Augen. Sie trug einen streng wirkenden Business-Overall und verwendete, dem Geruch nach zu urteilen, ein teures Parfüm. Im Großen und Ganzen eine attraktive Business Lady, der Traum vieler Männer. Besonders aus dem Mittelstand.
Interessant, ob sie wohl schnell gelernt hatte, „Igor“ akzentfrei auszusprechen?
Für ihn war das eigentlich nur ein Spiel. So etwas wie russisches Roulette: Klappt es oder klappt es nicht? Bisher klappte es, aber er fürchtete den Tod schon lange nicht mehr.
„Man hat die Psychologin für den Serienselbstmörder wohl lange ausgewählt. Sehr sorgsam. Vermute ich, Tasha? Deshalb hatte der Flug ´Verspätung´. Schlussendlich hatte man Tasha Nollan vom Amt für Ausnahmesituation gefunden. Sie erschienen ideal für diese Sache und verfügte über einen makellosen Ruf, aber das ist bedeutungslos. Eigentlich gab es noch gar keinen Ruf zu ruinieren. Die Hauptsache ist jenes, für die heutige Zeit untypisches, ungetrübtes Leben. Bisher wurde noch keine Bewölkung vorausgesagt. Eine glückliche Kindheit in einer glücklichen Familie, ausgezeichnetes Studium, eine interessante und hochbezahlte Arbeit. Einen reichen Schönling als Verlobten… Und nicht einmal Zahnweh hatten Sie, jedoch extrem seltene Fälle von Migräne, die mit einem übermäßigen Champagnergenuss auf Partys und Empfängen und mit einem zu wenig an Schlaf in Verbindung standen. Besser könnte man es sich nicht ausdenken. Kein Fünkchen Unglück, das eine Unzufriedenheit im Leben anheizen konnte…“
Ein schwieriger Fall, ja wirklich. Kein Leben, nur Beruhigungs-Tabletten… Die Trommel drehte durch, im Lauf blieb eine Patrone… Es gab nur die Hoffnung auf eine Fehlzündung… Aber das Spiel war umso interessanter.
„Höre ich in Ihrer Stimme Betroffenheit, Neid oder Bosheit?“, Tasha erkundigte sich vorsichtig. Sie hatte scheinbar begriffen, wie sie zu ihm durchdringen konnte. Jetzt war es die Hauptsache, es nicht zu übertreiben.
„Nun, was denken Sie? Selbstverständlich nicht! Weder das eine, noch das andere, noch das dritte. Ich freue mich für Sie. Zumindest ist irgendjemand unter dieser Sonne glücklich. Ich stelle lediglich fest. Aber stimmen Sie mir zu, Sie sind eine klare Ausnahme. Die Menschheit hat das Sonnensystem erschlossen, hat die Sterne erreicht, hat zweifelhafte geistige Werte angenommen und hat die meisten Krankheiten besiegt. Aber hat das die Menschen auch nur ein bisschen glücklicher gemacht als zur Zeit der Hominiden, als sie vor Kälte gestorben sind oder von wilden Tieren gefressen wurden? Es scheint mit irgendwie sogar genau umgekehrt.“
„Und ist das, ihrer Meinung nach, ein Grund aus dem Leben zu gehen?“
„Nein, das ist es nicht. Ich denke, Frau Doktor, Sie sind über meinen Fall bestens informiert, aber ich wiederhole meine… Krankengeschichte dennoch. Seit zwanzig Jahren habe ich diesen Lärm in meinem Kopf, er ist laut und hört nicht einmal für eine Sekunde auf. Das liegt daran, dass ich alle Gedanken aller Personen höre. Aber wenn es nur das wäre! Ich sehe und fühle deren ganzes Leben, vom Anfang bis zum Ende, was bei den meisten zu wünschen übrig lässt. Natürlich ist all das Negative bei einem Durchschnittsmenschen annähernd gleichmäßig über das Leben verteilt.
Und im Allgemeinen wird das als schwacher und drückender Schmerz empfunden. Aber, Tasha, was denken Sie, was passiert, wenn man ein solches Leben nimmt und auf eine Minute zusammendrückt? Oder auf eine Sekunde? Wenn Sie nicht sofort an dem Schmerz, beziehungsweise dem Schock sterben, um es genauer zu sagen, dann werden Sie eine lange Wiederbelebung nötig haben. Und ich kämpfe mit diesen Schocks schon die letzten zwei Jahrzehnte. Tag und Nacht. Ich schlafe nur mit Schlaftabletten, um nicht zu träumen, denn im Traum ist es noch schlimmer.
Also, wie würden Sie sich entscheiden, Tasha, wenn Sie an meiner Stelle wären?
Wenn dein sogenanntes Leben dir zu nichts nutze ist und wenn deine Mission auf dieser Erde zu einer unerträglichen Qual geworden ist und du dich davon befreien könntest, ein für alle Mal. Durch einen einzigen Schritt von dieser Kante. Sofort befreit von allem… von allem, was dir sterbenslangweilig ist…“
Er war nun wirklich bereit zu springen. Er ging zum Rand vor. Er hörte bereits Menschen aus den entlegendsten Winkeln des Sonnensystems, er fühlte ihre erschütternden Leben mit.
…Grundsätzlich waren es jene, die früher einmal Ostarbeiter genannt worden waren. Und wie wurden sie nun genannt? Geo-Arbeiter? Auf der Erde gab es irgendwie überhaupt keine Arbeit mehr, noch dazu wenig Platz.
Die Erde war nun ein elitärer Ort nur für Auserwählte. Aber im All… Wozu gab es Menschen im All? Wenn doch Maschinen alles viel besser machten? So kam es vor, dass sich Geo-Arbeiter auf der Arbeitssuche im Kosmos verstreuten.
Und sie nörgelten nicht wirklich, denn zu betteln und schlussendlich zu verhungern wäre die Alternative dazu gewesen.
Dabei konnte es durchaus auch ein Sauerstoff-Hunger sein…
„Und es gibt keinen anderen Ausweg?“, fragte Tasha.
„Nun, warum denn nicht? Es gibt einen. Nur ob Sie ihn benutzen werden? Ich denke nicht. Ich würde es Ihnen nicht raten.“
Igor ließ den Handlauf los. Nun war nichts mehr zwischen ihm und dem Abgrund.
Er würde springen, wenn sie jetzt nicht sagen würde „Raten Sie es mir!“. Es wird keine Fehlzündung geben…
„Raten Sie es mir!“, sagte Tasha und hob die Hand unbewusst in seine Richtung, „Ich bin doch hier, um Ihnen zu helfen.“
Seine Hand umgriff erneut das zylindrische Geländer, das die Aussichtsplattform umgab.
„Ich habe noch eine Fähigkeit“, fing er an, „über die bisher noch niemand Bescheid weiß, obwohl ich schon von ihr erzählt habe. Diesen drei früheren Psychologen. Ich nenne sie „Verschiebung“ oder „Umverteilung“, wenn Ihnen das besser gefällt… Im Kern geht es darum, dass ich meine Fähigkeiten auf jemand anderen übertragen kann.
Ich verliere sie praktisch komplett, aber nach einer Weile kehren sie wie ein Bumerang zu mir zurück. Aber für mich bedeutet diese Zeit eine Atempause, die mir die Möglichkeit gibt, mich auf die darauffolgenden Schocktherapien vorzubereiten. Hier gibt es nur ein „Aber“. Derjenige, auf den ich es übertragen würde, muss damit einverstanden sein.
Nun, könnten Sie, Tasha, jetzt nur für ein paar Sekunden fühlen, was ich fühle? Würden Sie das mir zuliebe wirklich erleben wollen?“
„Ja. Wie ich schon gesagt habe, bin ich hier, um Ihnen zu helfen“, sie hatte kurz über die Antwort nachgedacht. Weil sie all das nicht recht ernst nahm. Nun gut, Telepathie. Aber die eigenen Fähigkeiten wie einen Sack weiterreichen…?
Um Patienten zu helfen, muss man ihnen immer entgegen gehen und insbesondere in ihren eigenen Spielen…
…Schmerz.
Schmerz und Verzweiflung. Weinen. Flehen. Fluchen. Zähneknirschen. Kaputte Leben. Verstümmelte Schicksale. Sie versank in alledem wie in kochendem Wasser. Sie sah alles so klar wie Igor Mutin, den vierzigjährigen Mann auf der Kante des Hochhauses. Sie war scheinbar bei allem anwesend…
Ein Frachtschiff eines Bergwerkunternehmens. Zwanzig Jahre zuvor. Es geriet in einen äußerst starken elektromagnetischen Impuls im Strahlungsgürtel des Jupiters. EMI – das ist wie eine Art Gewitter, bloß millionenfach stärker. Und dieser EMI war sogar um ein Milliardenfaches stärker. Der Strahlenschutz des Schiffs hielt dem nicht Stand. Alle Systeme waren wie gelähmt.
Wichtiger war jedoch, dass auch die Neuronenverbindungen in den Gehirnen der Anwesenden auf dem Schiff dem nicht Stand hielten. Und danach konnten die ehemaligen Homo Sapiens außer „Äh-Äh-Äh“ nicht mehr viel sagen.
Nur bei einem einzigen Mitglied der Besatzung entfaltete der EMI eine geradezu gegenteilige Wirkung. Sein Verstand begann sich in fremde Gedanken aufzuspalten.
Und erst, nachdem er verstanden hatte, dass er als einziger nicht wahnsinnig geworden war, gelang es ihm, das Schiff nach neun Tagen Schufterei und Sauerstoffmangel irgendwie wieder flott zu machen und es zu Io zu bringen.
Er entfaltetet seine außergewöhnlichen Fähigkeiten dann in vollem Umfang…
Genau in jenem Jahr ereignete sich der erste unerklärliche Selbstmord eines Krisenpsychologen in einem Rehabilitationszentrum auf Io, wo Igor zur Behandlung aufgenommen worden war. Ein schrecklicher Selbstmord. Der Doktor trank einfach flüssigen Stickstoff.
Und dieser Name, Igor Mutin, war unwirklich.
Dann sah Tasha ihr eigenes unbekümmertes Leben.
In sechs Monaten werden die Investoren der Pharmafirma ihres Vaters ihren Vater finden und er wird einen Schlaganfall erleiden und daran sterben. Daraufhin wird die Mutter zur Alkoholikerin. In einem Jahr wird ihr Verlobter, der dann schon ihr Ehemann sein wird, einen kostenlosen Flug zum Jupiter machen. Seine früheren Mafioso-Partner, denen er noch Geld schuldet und vor denen er nach Ganymed flieht, nachdem er für sich einträgliche Geschäfte tätigt, werden ihn schließlich finden. Sie werden ihn finden und am Jupiter dann in ein Boot packen, wie damals in Chicago: die Füße in Beton und ab in den Fluss. Wieso eigentlich ‚wie damals‘? Damals wie heute wird das praktiziert. Der einzige Unterschied ist, dass hier am Jupiter keinerlei Beweise zurückbleiben. In die Atmosphäre, futsch und aus.
Nun, Tasha Nollan selbst wird in zwei Jahren von einem geistig Zurückgebliebenen aus der Irrenanstalt vergewaltigt und landet dann in der gleichen Klinik…
Anfangs fasste sie sich am Kopf. Als ihre Beine dann nachgaben, ergriff sie den Handlauf.
„Das kann doch nicht sein“, flüsterten ihre Lippen. Sie schnaufte, wie nach einem Rennen, „Es darf nicht sein. Nein!“
„Es geht doch nicht darum, ob du in dem jetzigem Moment glücklich bist oder nicht“, erklärte Igor leise und lehnte sich etwas zu ihr, „sondern es geht darum, ob du dazu überhaupt in der Lage bist. In unserer Gesellschaft ist ein glückliches Leben doch der unausgewogenste Zustand, genauso das Leben in der Natur selbst.
Ein Ausreißer, den die Natur dann im Laufe ihrer gesamten Evolution auszugleichen, zu unterdrücken, zu begradigen und zu zerstören versuchte. Es ist doch so, dass die Natur unumstößliche Gesetze im Universum aufgestellt hat und aufstellen wird. Alles weitere erledigt sich von alleine. Durch unsere Hände…“
* * *
Er stand am Geländer und blickte gleichgültig hinunter…
Dort, dreihundert Meter entfernt, auf dem Vorplatz des Wolkenkratzers streckte sich der Körper des Mädchens aus. Ja, Ganymed liebt uns nicht so sehr und zieht uns nicht, sagen wir, so wie die Erde, an… Und sogar weniger als Merkur, der etwas kleiner ist als er… Es ist so. Der poröse Ganymed besteht aus Eis – im Gegensatz zum festen, eisernen, steinigen Merkur. Deswegen ist die Gravitation auf ihm um das Dreifache schwächer als auf dem kleineren nahsolaren Handelsgott… Auf der Erde und auch auf dem Merkur verwandelt ein Sturz aus einer solchen Höhe einen Menschen in ein unappetitliches blutiges Kotelett. Aber hier nicht.
Sie spürte fast nichts, keine Schmerzen. Sie fiel vom Hochhaus eher wie eine hinunter gleitende Feder und sie schaute nun am Gummiasphalt beinahe lebendig aus.
Schwarzer Humor ist auch Humor.
Und Gott braucht immer ein Opfer. Würde er ansonsten seine Arbeit erledigen? Denn Gott ist selbst ein Opfer. Ein Opfer seiner, auf ihn gefallenen, übermenschlichen Fähigkeiten, für die er mit seinen periodischen Selbstmorden bezahlt. Schlussendlich verliert er in diesem Russischen Roulette stets einen Teil von sich, nachdem er am Rand balanciert hatte.
Allerdings schaute er nicht völlig gleichgültig hinunter. In seinem Blick zeigte sich Enttäuschung. Sie hatten jemanden gefunden, den man schicken konnte! Psychologen. Idioten.
Sie dachten vielleicht, dass sie ein dickes Fell hätte? Wird er süchtig nach Anstiftung zum Selbstmord? Sie tat es sofort… Im Unterschied zu den drei vorherigen. Diese hatten es nicht sofort getan. Erst nach ein, zwei Tagen… Der Effekt war schon rückgängig gemacht worden.
Obwohl, wenn man nachdenkt, ist das eigentlich natürlich.
Womöglich hatten diese drei nicht so zuckersüße Leben wie das Mädchen, aber… für denjenigen, der ständig verprügelt wird, ist es bei weitem schwieriger als für den, der niemals auch nur mit einem Finger angerührt wurde. Das Mädchen schien schlussendlich zu verletzbar.
Igor hörte schon seine eigenen Worte, die er dem Inspektor aufgeregt sagen würde: „Ich weiß nicht, was passiert ist! Ich verstehe es nicht..! Ich habe mit ihr geredet..! Nur geredet. Und plötzlich ist irgendwas in sie gefahren, und sie..! Ich habe noch versucht, sie aufzuhalten, sie zu fangen, aber…“
Aber eigentlich fühlte er jetzt wieder ein enormes Glück. Wärme breitete sich in seinem ganzen Körper aus. Nur ein, auf eine einzige Sekunde komprimiertes glückliches Leben konnte ein solches Glück bereiten. In seinem Kopf wurde es, zum ersten Mal seit drei Jahren, wieder ruhig. Kein einziger fremder Gedanke. Der Radius seiner telepathischen Fähigkeit war gleich null. Erst im Laufe der kommenden fünf Jahre breitet sich dieser Radius wieder langsam, aber sicher auf die gesamte Menschheit aus.
Seine Fähigkeit kehrte immer wieder zu ihm zurück, wie eine todlangweilige Persona non grata, die seinen Zustand beobachtet, klettert und klettert sie, um ihn zu küssen.
Und später wird er dann erneut dazu gezwungen sein, mit jemandem Russisches Roulette zu spielen, um nicht den Verstand zu verlieren. Denn schließlich kann er nur durch diese Lebensgefahr die Gabe des Jupiters abwerfen…
Aber jetzt ging es ihm gut. Zumindest ein oder zwei Jahre des Aufschubs waren gesichert.
Er sprang über das Geländer auf die Aussichtsplattform, wo es schon vor Uniformierten wimmelte. Jetzt konnte man in Ruhe arbeiten… Ein oder zwei Jahre.
Dann, in einem halben Jahr wird auf der Europa ein Erdriss losgehen. Auch New-Tokio wird sich darauf befinden. Nach einem Jahr werden Selbstmordattentäter einer orthodoxen Terrorgruppe den Asteroiden Tautatis erobern und auf den Mond richten, auf Kabul-Stadt. Nach drei Jahren wird sich eine Katastrophe auf den Weltraumbahnhöfen in der Umlaufbahn nahe des Tritons ereignen:
Beim Öffnen eines Portals geht zu viel Information in Energie über und eine Explosion ändert sogar die Umlaufbahn von Triton ein wenig und die ungeheuerlichen Gammastrahlen überfluten in einem Sonnenbad alles. Auf dem Merkur tobt es schon wieder wegen der unregelmäßigen Erwärmung der künstlichen Atmosphäre und die kleinen künstlichen Meere gehen über. Der Generalgouverneur von Marsanie wird bei einem Ausflug in die Kobaltminen auf der Venus beinahe getötet, nachdem ihm ein Raumanzug mit eingeschränkter Thermoregulation untergejubelt wurde. Der antarktische Eispanzer reißt schlussendlich entzwei und verteilt sich auf zwei Kilometer.
In Summe werden die Opferzahlen nicht allzu groß sein.
Und man müsste einen Spiegelbildkanal ein wenig früher erfinden, weil eine interstellare Sonde auf dem Stern Ross 128 vier Jahre später aufgrund der Instabilität der Tensorverbindung auf dem ursprünglichen vernichtet werden muss. Offiziell wird es sich um einen Steuerungsfehler handeln: Für uns ist es noch zu früh zu wissen, was dort ist.
Aber für die „Brennende Quelle“ wäre es viel, viel besser mit den offiziellen Regierungen in Kontakt zu treten! Damit nicht so etwas passiert, wie drei Jahre zuvor mit den Marsäpfeln, wodurch beinahe die Hälfte der menschlichen Rasse verloren ging. „Und auf dem Mars werden die Äpfel blühen!“ Die Erfinder! Man plagte sich ein Jahr mit einer Leberzirrosen-Epidemie ab, obwohl nur ein halbes Jahr nötig gewesen wäre und nicht mehr als ein Drittel der Bevölkerung erkranken hätte müssen. Weil dann kam man aufgrund einer globalen Asteroidenkrise unter Zeitdruck. Beinahe hätte sich ein kleines Missgeschick nicht ereignet.
Und was wirklich interessant war: in all den zwanzig Jahren hatte er noch nicht entschieden, wie er zu diesem elektromagnetischen Impuls stehen soll, der durch die extreme Magnetosphäre des Jupiters erzeugt worden war.
Sollte er sich für diese Gabe, für diesen unglaublichen Zufall und den Einfluss des Hypermagnetismus auf das Gehirn bedanken? Oder sollte er jenen Tag verfluchen, als er, Igor Mutin, auf jenem unglücklichen Weltraumlastkahn Arbeit als Navigator fand, der dann später in den Impuls kam?
Aber schlussendlich hatte Igor dank jener Katastrophe eine solche Arbeit. Eine Arbeit für Selbstmörder. Die Arbeit Gottes. Die Arbeit des Leiters der „Brennende Quelle“, einer Geheimdienstorganisation, die durch Igor auf Basis der Vereinten Geheimdienste gegründet wurde. Faktisch bedeutete das die Arbeit eines Leiters von menschlichen Zivilisationen. Eines geheimnisvollen, jedoch wirklichen Leiters.
Es ist nicht verwunderlich, alles im Voraus zu wissen, wenn du das alles selbst planst. Für den Serienselbstmörder und die Protokolle war er, Igor Mutin, zuständig. Aber seine Eltern nannten ihn nicht so.
„Ja und die ‚Serienselbstmörder‘ sollen diese Fantasten etwas später niederschreiben“, dachte er, „weil sie immer alle Geheimnisse früherer Zeiten ausplaudern…“
Mykolaiv, 4. Oktober 2004.
Übersetzung vom Johannes Haselsteiner
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