Das Erwachen
Eine Miniparabel
Schließlich kam der langersehnte Tag: Sie brachten ihn zur Hauptstraße und… der 23-jährige Mann stand aus seinem altersschwachen Rollstuhl auf und ging.
Er ging auf seinen eigenen Beinen und seine Schritte wurden zunehmend sicherer. Die morgendliche Junisonne streichelte ihm über den Hinterkopf und die ganze Welt schien rosig und ihm zuzulächeln.
Brüllende Autos fegten vorbei, bauchige Autobusse, das Straßenbahnsignal rief jemandem zu… Die Stadt erwachte aus ihrem nächtlichen Schlaf. Mädchen schenkten ihm ihr Lächeln und sogar eine strenge Blumenverkäuferin an der Ecke applaudierte verblüfft.
Nun war er ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft. Nun standen ihm alle Türen offen, all seine unerfüllten Träume schienen auf einmal zum Greifen nah zu sein. In der Zukunft einen Flug zum Mars…warum, zum Teufel, eigentlich nicht? Nichts mehr war unmöglich – denn er stieg ja wirklich aus diesem Rollstuhl!
Und sie wird ihn auf eine Weise anblicken… sie, die Einzige auf der Welt. Er träumte von ihr seit der fünften Klasse und für sie hätte er ALLES getan und er verfluchte die ganze Welt, weil er NICHTS tun konnte. So wird sie ihm in die Augen sehen… Und Worte würden nicht notwendig sein.
Und ihre Augen – Bergseen, in denen man versinken konnte.
Die Flucht führte den Verbrecher auf die Hauptstraße hinaus. Er war von Polizisten geflohen und stieß auf dem Weg alle Passanten zur Seite. Der Mörder floh, aber das durfte man keinesfalls zulassen. Vor einem halben Jahr wurde er gefasst und nun tötete er noch auf der Flucht zwei Menschen, nachdem er einem von ihnen die Pistole entrissen hatte.
Der Leutnant entschied sich für einen extremen Schritt: er zielte mit seiner Dienstwaffe „Makarov“. Er schoss dem Verbrecher ein paar Mal in den Rücken.
Kein Flüchtiger entkommt einer Kugel. Ohne aufzuschreien, begann der Verbrecher wie ein wildes Tier zu knurren, drehte sich und wollte mit seiner geschwächten Hand einen Antwortschuss abgeben, doch es gelang ihm nicht. Die nächste Kugel traf ihn in die Brust und warf ihn zurück. Er wurde für immer zum Schweigen gebracht.
Als er hinfiel, löste sich jedoch ein Schuss und traf irgendeinen Kerl, der zufällig in der Nähe war. Dieser war gerade aus seinem Rollstuhl aufgestanden und machte Pläne für die Zukunft…
Die Wirbelsäule in diesem jungen Körper, der gerade erst erweckt worden war, wurde im Bereich der Lenden zerschmettert…
Und dann, nach einem Monat, nach einem Krankenhausaufenthalt und nach dem – „Wir haben getan, was wir konnten“ – der Ärzte wurde der Bursche erneut in einen neuen elektrischen Rollstuhl gesetzt. Ein Geschenk der Polizei.
Er sagt lächelnd: „Ein Rollstuhl der Marke ‚Vitex‘ lässt sie jeden Wunsch zu gehen vergessen.“
„Cut!“, schrie der Regisseur, „Oh Gott, was für ein Blödsinn“, fügte er dann mit einem Seufzer hinzu.
* * *
…Am anderen Ende der Stadt fuhr ein 23-jähriger Mann in einem Rollstuhl der Marke ‚Vitex‘ auf die Hauptstraße hinaus. Daneben ging seine beste Freundin. Sie unterhielten sich, sie lachten, und er versuchte aufzustehen.
In der Ferne hörte man die schrille Sirene eines Polizeijeeps. Sie näherte sich rasch.
4. Juni 1992. Nikolaev. Ukraine
Bild von Ljubov Nikolaeva
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