Der Werber
Eine Erzählung
Strände sind gut für Romanzen.
Und die Strände von Miami im Besonderen.
Natürlich nur dann, wenn sich nicht gerade irgendein Hurrikan mit einem romantischen Frauennamen auf sie stürzt…
Nachdem wir reichlich in den warmen Wellen gebadet und uns geküsst hatten, kehrten wir zu unseren Liegestühlen unweit der Meeresbrandung zurück. Wir sonnten uns eine Weile. Dann bemerkte ich, wie eine Frau einen Rollstuhl durch den Sand schleifte. Es war so eine Art Rollstuhl extra für den Strand, aus Plastik und mit breiteren Rädern… und dennoch schwer, weil darin ein erwachsener Mann saß.
Ich beschloss, ihr zu helfen.
Ich machte es dem Kerl bei der Meeresbrandung so bequem wie möglich. Es schien, dass er, durch meine Hilfe stark werdend, sogar irgendwie Mut fasste. Fast alleine stieg er aus seinem Rollstuhl und legte sich auf den Sand, um sich bräunen zu lassen.
„Wie ich sehe, hast du Erfahrung mit ehrenamtlicher Arbeit“, sagte mein Liebling, als ich zurückgekommen war, „Ich erfahre täglich etwas Neues über dich.“
„Noch weißt du nicht alles über mich“, seufzte ich.
Wir kannten uns nun schon einen Monat, aber ich hatte ihr noch nicht alles gesagt, was ich sagen sollte. Und es lag keinesfalls daran, dass wir uns diesen Monat meistens mit etwas völlig anderem als philosophischen Gesprächen beschäfigten. Ich wollte diesen einen Moment so lange wie möglich herauszögern – den Moment des Abschieds…
Ich habe scheinbar wirklich das Mädchen meiner Träume gefunden. Beim ersten Treffen hatten wir natürlich Zeit für ein Gespräch. Ein seltenes Exemplar.
Sehr seltenes.
Intelligent und schön.
Oder umgekehrt, aber das ist unwichtig. Freundinnen sagten ihr, dass sie mit ihrem Aussehen am Laufsteg oder als Schauspielerin hätte arbeiten können. Es gab sogar das Angebot für einen Pornofilm. (Natürlich handelte es sich bereits um ehemalige Freundinnen.) Und du? Und was „und du“? Anstatt im Showbusiness mit dem nackten Hintern zu wackeln, wollte sie wissen, wie viele Galaxien und echte Sterne, nicht Popsterne, sich am Himmel befinden. Und auch, wie sie aufgebaut sind und ganz zu schweigen von dem Haufen an Fragen über das, was sich hinter dem Kosmos befindet. Anstatt in einem Bett zu liegen, in dem man liegen „muss“ und mit jemandem, mit dem man liegen „muss“, um an einem möglichst öffentlichen Platz mit dem Hintern zu wackeln? Und sich aufgrund des Aussehens eine ordentliche Altersparanoia anzueignen… Kurz gesagt, sie hat sich mit der Astrophysik beschäftigt.
Ja, ein Phänomen. Was ihre Eltern ihr diesbezüglich gesagt hatten, wissen wir nicht. Aber ich denke nicht, dass es besser als das war, was ihre Freundinnen gesagt hatten. Die ehemaligen.
Auch der Religion gegenüber verhielt sie sich, milde gesagt, pietätlos. Gott, sagt sie, könnte zwar existieren, was aber nicht bewiesen wäre, jedoch hätten Kleriker oder verschiedenste Prediger mit ihm keinesfalls etwas zu schaffen. Denn was für eine Beziehung können Lügner und Heuchler zu einem höheren Wesen haben? Oder bestenfalls Leute, die nicht besonders intelligent sind, um es in einer abgeschwächten Form ihrer Worte auszudrücken, und die sich einem bloßen Wunschdenken dieser Existenz hingeben? Nun, ich weiß nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Alles hängt von diesem „höheren Wesen“ ab…
Jedenfalls war diese Ansicht heutzutage zwar weit verbreitet, aber sie war nicht besonders beliebt, wenn man sich die ganze religiöse Propaganda vor Augen hält. Insbesondere in unseren Ländern, wo der Einfluss einer kriminell-kirchlich-geheimdienstlichen Gewalt erneut aufbrodelt. Wo sind wir übrigens, wo sind „unsere Länder“? Wollen sie sich ständig auf die gleiche Weise von einem ins andere Extrem hetzen? Bitte treten sie näher! Aber ohne uns, denn wir müssen diesen widerlichen Prozess wirklich nicht mit ansehen. Obwohl wir starke Nerven und einen starken Magen haben.
Und zu allem Überfluss, mein Liebling, noch eine Blondine. Nun, nach einem gängigen Vorurteil besteht eine Inkompatibilität zwischen Blondinen und Verstand – ein Phänomen hoch zwei. Es gibt offensichtlich noch Phänomene, sogar noch zum Quadrat.
Auch die Burschen wichen vor ihr zurück. Natürlich nicht beim ersten Mal! Aber dann beim zweiten Mal. Denn wem gefällt es, sich selbst in der Gesellschaft einer Blondine als Trottel zu fühlen? Oder in irgendeiner sonstigen Gesellschaft… Einem, der nur an das eine denkt…
Auch ihr Name war ungewöhnlich, selbst für eine Slawin. „Slava“. Nicht Miroslava, nicht Yaroslava, einfach nur Slava.
Vielleicht war sie deswegen so lange alleine. Sie suchte scheinbar jemanden wie mich, einen „Muskelprotz“, der seinem Gegenüber im Ring nicht auf den Kopf schlägt und, sagen wir, der sich nicht nur mit dem Bankdrücken, sondern auch mit Astronomie beschäftigt und auch phantastische Literatur schreibt… Eigentlich trafen sich hier zwei „Einsamkeiten“.
Trotzdem hatte sie niemanden gesucht, wie sie selbst behauptete. Es ist einfach so passiert, zu einem Zeitpunkt, als sie schon von allen enttäuscht war.
„Also, und wo ist jetzt deine Mutter?“, erkundigte sie sich, „Du hast mir versprochen, sie mir heute vorzustellen.“
„Ja“, bestätigte ich ihr, „Aber bevor ich das machen werde, werde ich dir etwas erzählen… Damit das kein Schock für dich wird!“
„Sitzt sie auch im Rollstuhl?“
„Was? Oh nein!“, lachte ich, „Du kannst dir auch gar nicht vorstellen, wie oft – ´nein´.“
* * *
Zehn Jahre ist es her.
Ich saß in meinem Sessel beim Computer und löste komplexe mathematische Aufgaben, um mich von den schlechten Gedanken abzulenken. Im Sessel deswegen, weil ich den Rollstuhl zuhause nicht brauchte.
Im Gang knallte eine Tür zu. Mama ging in den Laden, während der Installateur im Nebenzimmer an unserem Heizkörper herumbastelte.
„Dan, komm mal her!“, hörte ich es plötzlich.
Zuerst schenkte ich dem keine Aufmerksamkeit, weil ich dachte, dass nicht mit mir geredet wurde. Was für ein Dan, außerdem? Vielleicht war ein Kollege gekommen.
„Daniel, ich rede eigentlich mit dir“, sagte der Installateur und betrat das Zimmer, „Hörst du mich leicht nicht?“
Ich sah ihn verständnislos an. Wie meinte er das „komm“? Doch plötzlich verstand ich, dass ich genau das tun konnte. Ich fühlte es einfach…
Was soll ich Ihnen sagen…?
Lange habe ich von einem Wunder geträumt! Nach dem Motto: „Zack“ – und fertig. Natürlich glaubte ich weder an Satanswerk noch an himmlische Heilungen, und alle diese „Wunderheiler“, die mir genau das versprochen hatten, hatte ich schon lange weggeschickt. Und dann passierte genau das – ein „Wunder“…
Bitten Sie niemals darum, gekniffen zu werden. Nicht einmal gedanklich. Es schmerzt. Und außerdem ist das absolut noch keine Garantie dafür, dass das Erlebte kein Traum ist. Es gibt zuverlässigere Kennzeichen eines Traumes. Am allerwichtigsten: In einem Traum kann sich der Mensch über nichts wundern. Alles geht, außer sich zu wundern. Man hält alles für selbstverständlich und sogar das Universum mit all seinen Naturgesetzen lässt sich grundlegend ändern und selbst der schlimmste Fall löst höchstens Unmut aus. Wieso zum Teufel mogeln Sie? Es wurden Spielregeln akzeptiert – die fundamentalen und unabänderlichen Naturgesetze. Befolgen Sie sie! Schummeln verboten!
Natürlich verlor ich damals nicht nur die Begabung des Sprechens, sondern ich konnte auch keinen klaren Gedanken mehr fassen. Dafür erlangte ich die Fähigkeit des Gehens und der Bewegung allgemein, so wie ein normaler, physisch gesunder Mensch. Ungewöhnliche Gefühle, offen gesagt, und neue.
„So, da sich der Kunde in einer Starre befindet“, begann der Installateur und bastelte weiter an unserem Heizkörper, so als ob nichts geschehen wäre, „werde ich einmal sprechen. Für den Anfang, die Antworten auf die `FAQs`. Wer bin ich? Du kannst mich den Werber nennen. Ich bin ein Vertreter der MVG – der metagalaktischen Vernunftgesellschaft, einer Gesellschaft von Zivilisationen der dritten Art, wie es bei euch wissenschaftlich lauten würde.
Du weißt ja: Es sind jene Zivilisationen, die die Ressourcen ihrer eigenen Galaxie schon in Besitz genommen haben.“
Und ich sah all das. Es tauchte einfach in meinem Verstand auf. Galaxien, Sterne, Planeten, Zivilisationen… Millionen, Milliarden verschiedenster Rassen.
Es gibt übrigens noch eine weitere interessante Entscheidung: Selbst an allen Orten des Universums zu sein und alles buchstäblich mit seinen eigenen Händen zu berühren oder, wie selbstverständlich, über all das Bescheid zu wissen? Worin liegt überhaupt der Unterschied?
„Was brauchen wir?“, setzte „der Werber“ fort, „Wir brauchen dich als Agent. Nicht überall, natürlich, hauptsächlich auf diesem Planeten. Und nur in außergewöhnlichen Fällen noch dort, wo Zivilisationen noch nicht in Kontakt mit der MVG stehen. Du musst auf sie Acht geben… Übrigens wirst du deine ersten Aufträge schon bald nach der Einschulung erhalten. Natürlich nur dann, wenn du dich überhaupt einverstanden erklärst. Niemand zwingt dich zu etwas. Nein, wir werden nur Informationen aus deinem Gedächtnis löschen, was prinzipiell schade ist, weil du talentiert bist. Gibt es sonst noch Fragen?“
Irgendwie kehrte die Fähigkeit zu sprechen zurück, jedoch die Fähigkeit, klar zu denken… ich glaubte nicht. Denn diese Frage war dumm, doch ich stellte sie dann, weil das Weiterdenken mir schwer fiel:
„Und Mama?“
Ich hätte auch noch nach meiner Schwester Svetik gefragt. Der Vollständigkeit halber. Ich wusste nicht, was dieser Werber jetzt von mir dachte. Ein Muttersöhnchen vielleicht. Man bietet dir so etwas an und… dann so eine Frage.
„Was soll mit Mama sein?“, fragte er, „Wir brauchen sie nicht. Wir löschen dich aus ihrem Gedächtnis und aus. Es ist so, als ob du nie existiert hättest.“
Bis heute kann ich nicht eindeutig sagen, was mich in diesem Moment bewegt hatte. Was für ein Antrieb! Vermutlich wäre es auf diese Art für alle besser… doch es blieb ein Gefühl der Falschheit und der Ungerechtigkeit… der Betrügerei.
Sie ändern die Naturgesetze nach eigenem Gutdünken, heilen einen unheilbar Kranken und machen ihn zu ihrem eigenen Superagenten. Und seine Eltern werden wie Abfall weggeworfen. Sollte man sich auf solche Leute einlassen?
Ich setzte mich zurück in meinen Sessel und erklärte:
„Dann auf Wiedersehen.“
„Was, einfach so?“, erkundigte sich der Werber nach einer Pause etwas verblüfft. „Ich werde jetzt gehen und du wirst aus dem Fenster springen, wenn du ablehnst. Obwohl, es ist im Rollstuhl nicht so einfach. Niemand wird dir jemals wieder so ein Angebot machen. Und wird es deiner Mutter dadurch besser ergehen?“
„Löschen Sie doch mein Gedächtnis“, stichelte ich. Es schien, dass ich meine Fähigkeiten, klar zu denken und zu sprechen endgültig zurückgekehrt waren. Ich stieg in das Abenteuer ein. „Aber ich werde dann nicht einmal über ihr Angebot Bescheid wissen.“
Der „Installateur“ seufzte. Vermutlich dachte er über die Schererei mit diesen Familienmenschen nach. Gedanklich an die Familie gebunden. Mit Waisen aus einem Waisenhaus oder einem Internat zu arbeiten, denen noch niemals etwas Gutes widerfahren ist, ist dagegen das reinste Vergnügen. Sie stimmen immer mühelos zu, ihre Kloake aufzugeben und sie zu vergessen, so als ob es bloß ein Albtraum wäre. Sie verfügen über keinerlei Bindungen, von Liebe ganz zu schweigen. Selbst wenn sie dort irgendwelche Freunde hatten. Ich weiß nicht, warum er nicht sofort weggegangen ist. Vielleicht war er sich selber uneins, ob man aus mir einen Nutzen ziehen konnte.
„Willst du, dass ich dir sage, was du jeden Morgen beim Aufwachen denkst?“, fing er an, „Alle 25 Jahre deines Lebens fragst du dich: Warum ich? Warum muss ich jeden Tag dafür kämpfen, was jedem beliebigen Schnorrer von selbst zuteilwird? Alleine dadurch zuteilwird, dass dieses Scheusal auf die Idee gekommen ist, geboren zu werden? Und ich bin durch Ketten gefesselt, sitze in einer Grube, aus der man nicht hinauskommt. Es gibt kein Entrinnen! Oh Wunder, heute habe ich es wieder einmal geschafft die Zeitschrift vom Boden aufzuheben. Ganz zu schweigen von dem, für dich komplett unerreichbaren natürlichen „Wunder“ wie Liebe.
Aber es gibt keine Antwort, denkst du. Weil es im Prinzip keine geben kann. Weil es nur ein vollkommen idiotischer Fehler jener Leute war, die jenes Experiment an dem ganzen idiotischen Land durchgeführt haben und diese Bastarde haben diesen Fehler nicht einmal bemerkt. Niemand ist schuld und niemand kann helfen… Außer, natürlich, du glaubst an diese zynischen Märchen, dass deine Krankheit ein „Gottessegen“ sei, dem eine ungeheure Belohnung folge. Aber du glaubst doch nicht etwa daran und würdest jedem auf die Schnauze hauen, der über Belohnungen fasselt, nicht wahr? Denn wieviel kostet die Jugend? Und ein Rendezvous mit dem Lieblingsmädchen? Tanzen in der Disko? Spazieren entlang der Uferpromenade?“
Ich wandte mich ab. Was konnte ich demjenigen sagen, der scheinbar alles über mich wusste?
Der Werber fing an, im Raum auf und ab zu gehen, nachdenkend oder mit jemandem telepathisch kommunizierend.
„Na gut. Machen wir es so“, sagte er schlussendlich, „du wirst auf jeden Fall unser Agent werden, aber momentan nur auf der Erde. Und du wirst eine etwas andere Art von Mission erfüllen. Aber dazu später. Um deine Mutter sowie um deine Schwester werden wir uns ebenfalls kümmern.“
Die „Carmina Burana“ war zu hören. Das Handy läutete in meiner Hose, die an dem Liegestuhl hing.
„ Oh, ich denke Mama wird bald kommen“, erklärte ich.
Nach dem kurzen Telefonat, sagte ich Slava, dass Mama am Ufer auf uns warte, weil sie ihre Rollschuhe wegen dem Sand nicht ausziehen wolle… Ich sagte doch, dass ein Treffen mit meiner Mutter bei vielen oder eigentlich bei fast allen einen Schock auslöst.
Es ist daher verständlich, dass Slava lange nicht zu sich kommen konnte, nachdem sie das Mädchen erblickte, dem ich „Ma“ zurief und welches jünger als ich selbst war.
„Nun, Kasanova“, spöttelte Mama über mich „du hast dem Mädchen wohl wieder über die Werber erzählt?“
„Was sollte ich ihr denn noch erzählen Ma?“, ich wehrte mich gegen ihre Hände, die mich an den Haaren zogen. „Über die plastischen OPs? Wer würde an das glauben?“
„Was heißt hier ´wieder´?“, konnte Slava gerade noch aussprechen. Sie kam der Sache auf den Grund.
Das heißt…
Ich konnte es ihr doch nicht sofort sagen, ich konnte es bis zu jenem Moment nicht sagen, dass ich selbst ein Werber sei, der wegen seiner Arbeit nicht nur der Freund des ‚Kunden‘, sondern auch dessen Liebhaber sein musste. Oder halt ein Kumpel für die männlichen Kunden. Für das volle Vertrauen und eine „Probefahrt“… Ich weiß nicht, wohin meine Angeworbenen verschwunden sind. Vielleicht auf erdähnliche Planeten, die gleich rückständig sind. Als Agenten. Oder vielleicht… Auf die Bank, um einen neuen Körper zu mieten.
Alles hat seinen Preis.
Das ist der Preis für den Erhalt meiner Gesundheit. Gefällt es Ihnen nicht? Na dann bitte! Noch hat man nicht aufgehört, auf der Erde Rollstühle zu produzieren und man wird auch in absehbarer Zeit nicht damit aufhören.
Kosmische Zivilisationen leiden nicht unter Humanismus.
Und auch nicht unter Altruismus.
21. bis 22. September 2010, Wien.
Illustration – L. Nikolaevа.
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